Indigene Datensouveränität und das Landraub-Universitätsprojekt

Die historische und andauernde Gewalt des Siedlerkolonialismus online und offline anerkennen

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INTRO

Historische Ungerechtigkeiten sind für indigene Völker aus dem nordamerikanischen Raum aufgrund des weiterhin fortbestehenden Siedlerkolonialismus keine Seltenheit.

Siedlerkolonialismus ist der Prozess der Übernahme von indigenem Land durch Siedler*innen, der die Auslöschung von indigenen Völkern erzwingt. Dieser Akt der Auslöschung wird nicht nur durch Landnahme etabliert, sondern weitet sich auch auf Strukturen darüber hinaus aus.  Zu den Strukturen, welche die indigene Souveränität behindern, gehören ontologische, kosmologische und politische Systeme. Zum Beispiel wurden indigene Rechte für Zeremonien und Tänze in den USA verboten, was die ontologischen und kosmologischen – also grundlegende – Attribute der indigenen Kultur betraf. Erst im Jahr 1978, als der American Indian Religious Freedom Act[1] verabschiedet wurde, wurden diese Zeremonien unter indigenen Völkern offen wieder eingeführt.

Historisch gesehen wurden indigene Völker aus diesem Rahmen der politischen und rechtlichen Anerkennung entfernt und dies hält bis heute an. Das zeigt sich deutlich in den Praktiken des Datamining, wie z.B. bei der jüngsten Kategorisierung der COVID-19-Daten in den USA, bei der indigene Völker als „andere“[2] eingestuft werden, oder sogar bei den Wahlen in den USA, bei denen indigene Völker als „etwas anderes“[3] klassifiziert wurden. Diese Beispiele verstärken die dringende Notwendigkeit, anzuerkennen und hervorzuheben, wie der Siedlerkolonialismus fortbesteht, wie er sich ebenso in extraktiven Praktiken des Dataminings zeigt und nach Wegen zu fragen, wie indigene Völker die Kontrolle über ihre eigenen Daten übernehmen können um so innerhalb größerer Strukturen anerkannt zu werden, die den Zugang zu Ressourcen im Allgemeinen ermöglichen. Es ist jedoch auch wichtig, historische Beispiele des Siedlerkolonialismus zu benennen, die außerhalb der Online-Kategorisierung weiterhin in die Gegenwart wirken, aber stärker mit Rohstoffpraktiken verbunden sind, die mit der Landnahme begannen. Im Folgenden möchte ich mich speziell auf das Projekt Land Grab Universities (LGU) konzentrieren, das von Robert Lee und Tristan Ahtone erstellt wurde.

Das Projekt Land Grabbing Universities

Das LGU wirft ein weiteres Licht auf den Siedlerkolonialismus und die daraus resultierenden historischen Ungerechtigkeiten, indem es die Gewalt der von indigenem Territorium gestifteten Land-Grant-Universitäten auf dem nordamerikanischen Kontinent entlarvt. Des weiteren sind and-Grant-Universities eine historische Markierung des Siedlerkolonialismus, in der das Land an die Universitäten gebunden wird, da diese mit enteignetem indigenen Land aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch den Morrill Act finanziert wurden. Der Morrill Act wurde 1862 von Präsident Abraham Lincoln für die Verteilung von Land für neu errichtete Colleges in den gesamten USA unterzeichnet, wodurch Land-Grant-Universitäten entstanden.

„Land-grant universities were built not just on Indigenous land, but with Indigenous land. It’s a common misconception that the Morrill Act grants were used only for campuses. In fact, the grants were as big or bigger than major cities, and were often located hundreds or even thousands of miles away from their beneficiaries.”

Das LGU-Projekt, wie es online zu sehen ist, zeigt verschiedene digitale Markierungen, die die Grausamkeit der Land-Grant-Universitäten deutlich machen, indem sie spezifische Daten aufzeigen. Die Anzahl der betroffenen Stammesnationen (245), wie viele Acres gewährt wurden (10,7 Millionen), die Anzahl der Universitäten, die davon profitierten (52), wie viele Landparzellen verteilt wurden (79.410) und die Höhe der Geldsumme (495 Millionen). „Like so many other U.S. land laws, the text of the Morrill Act left out something important: the fact that these grants depended on dispossession” (landgrabu.org). Das Land, das an die Universitäten vergeben wurde, wurde den indigenen Völkern genommen.

Um das LGU-Projekt weiterzuentwickeln, wurde nicht nur nach Landpatentaufzeichnungen, Kongressdokumente, historische Bulletins, historische Karten, Archiv- und Druckressourcen in den Nationalarchiven, staatlichen Repositorien und Spezialsammlungen an Universitäten und mehr recherchiert, sondern diese Daten wurden auch digitalisiert, um die Online-Datenbank auf landgrabu.org aufzubauen. Das Projekt ermöglicht es uns nicht nur nachzuvollziehen, wie Siedlerkolonialismus zur Finanzierung der Universitäten eingesetzt wurde, sondern bietet auch einen digitalen und erfahrungsbezogenen Hintergrund für die bereitgestellten Daten. Als ein Akt indigener Datensouveränität (IDS) unterstreicht es die Bedeutung und Notwendigkeit indigener Handlungsfähigkeit offline und online. Die LGU ist ein starkes Beispiel, das digitale Plattformen für den Zweck der IDS nutzt und gleichzeitig die Gewalt des Siedlerkolonialismus sowohl online als auch offline offenlegt.

WIDERSTAND

Da der Hashtag „land back“ in letzter Zeit auf digitalen Plattformen wie Instagram oder Twitter an Popularität gewonnen hat, ist es wichtig, über die Prozesse der siedler-kolonialen Herrschaft innerhalb der USA und die Möglichkeiten digitaler Plattformen wie LGU nachzudenken. Das Projekt ermöglicht einen epistemologischen, erkenntnistheoretischen Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus und trägt zur indigenen Souveränität bei. Diese Bewegung des Widerstands muss jedoch mit Vorsicht artikuliert werden. Denn in diese digitalen Plattformen ist der Kolonialismus eingebettet, wobei Modi des Datamining und Überwachungstechnologien indigene Völker weiterhin marginalisieren.

Um der Tendenz entgegenzuwirken, indigene Völker in die Kategorisierung „anders“ oder „etwas anderes“ zu verweisen, ist indigene Handlungsfähigkeit wichtig, wenn indigene Daten online verbreitet werden, um anhaltende Formen des Siedlerkolonialismus zu bekämpfen. Das siedlerkoloniale Modell offline zu verstehen, sowohl intern als auch extern, hilft uns, seine Online-Präsenz zu bekämpfen.

Das siedlerkoloniale Paradigma beginnt offline an der vordersten Front von indigenem Land und indigener Ungerechtigkeit, da es darauf abzielt, indigene Völker zu dominieren und/oder zu eliminieren. Audra Simpson erinnert uns daran, dass indigene Völker an die begehrten Territorien gebunden sind und eliminiert werden müssen; im siedlerkolonialen Modell gehen die Siedler*innen nie weg.  Der Siedlerkolonialismus zielt auf Land ab, weil Land das Wertvollste, Umstrittenste und am meisten Benötigte ist; seine Enteignung stellt eine tiefgreifende epistemische, ontologische und kosmologische Gewalt dar.

Zwei Formen des Siedlerkolonialismus, die Land zentralisieren, sind interner und externer Kolonialismus. Der externe Kolonialismus befasst sich mit dem Privileg und dem Reichtum der Kolonisator*innen; der interne Kolonialismus ist die biopolitische und geopolitische Verwaltung von Menschen, Land, Flora und Fauna innerhalb der heimischen Grenzen der imperialen Nation. Beide Formen des Kolonialismus verwalten und verstärken das Konzept von Land als Ressource.

Formen des Kolonialismus werden online innerhalb des technologischen Rahmens erweitert, einschließlich digitaler Plattformen, sozialer Medien, Datamining-Praktiken und wachsender Überwachungstechnologien. LGU unterläuft jedoch die Formen des Siedlerkolonialismus, indem es die historische Gewalt des Kolonialismus durch eine innovative und informative digitale Online-Plattform vorführt. Die Designer*innen zeigen online die Offline-Nachlässigkeit des Siedlerkolonialismus in Bezug darauf, wie die USA Land-Grant-Universitäten mit enteignetem indigenen Land finanzierten.  Eine interaktive Karte von Nordamerika zeigt explizite Daten und Details darüber, wie indigenes Land über den Morrill Act oder Gesetze, die an dessen Stelle treten, an Universitäten umverteilt wurde.  Die Karte macht sowohl den externen Kolonialismus (die Universitäten, die Land Grants erhalten) als auch den internen Kolonialismus (wie indigenes Land zum Zweck des internen Kolonialismus verteilt wird) sichtbar. Indem wir auf jeden Staat klicken, sehen wir, welche Universitäten von welchen Stammesnationen Land-Grants erhalten haben. Wir erfahren, dass über zehn Millionen Hektar indigenes Land an zweiundfünfzig Universitäten vergeben wurden, sowie weitere wichtige Daten zum Siedlerkolonialismus. Durch die Organisation dieser Daten mit Hilfe verschiedener digitaler Marker (Grafik, Tabelle, Karte) schaffen die Projektbeteiligteneinen Raum für IDS.

SOUVERÄNITÄT ÜBER INDIGENE DATEN

IDS bezieht sich auf die Verwaltung indigener Daten. Indigene Daten umfassen Daten, Informationen und Wissen über indigene Individuen, Kollektive, Einheiten, Lebensweisen, Kulturen, Land und Ressourcen. Zu oft werden indigene Daten in Open-Data-Arenen falsch gehandhabt, wodurch indigenen Völkern die Handlungsfähigkeit entzogen wird und die zerstörerischen Auswirkungen des Siedlerkolonialismus verlängert werden. Indigene Völker brauchen Daten über ihre Bürger*innen, Gemeinschaften, Land, Ressourcen und Kultur, um informierte Entscheidungen zu treffen. Dennoch machen nur wenige offizielle statistische Ämter ein bedeutendes Zugeständnis an indigene Rechte in Bezug auf indigene Daten.

Die Notwendigkeit von Räumen, die indigene Handlungsfähigkeit und Governance über indigene Daten unterstützen, ist von größter Bedeutung, um Formen des Siedlerkolonialismus in digitalen Räumen zu bekämpfen. Konzeptualisierungen von offenen Daten als rein digitale Daten erzeugen einen Bereich, der offen ist für die Kooptation von Daten und den Diebstahl von indigenem Wissen. Zum Beispiel in Fällen, in denen Forscher*innen oder andere, die indigenes Wissen über die Umwelt sammeln (im Gegensatz zu digitalen Daten), dieses Wissen digitalisieren und offen teilen, ohne die Zustimmung der indigenen Völker oder deren Aufsicht. LGU stärkt IDS, indem es spezifische Informationen über Land-Grant-Universitäten und die Enteignung von indigenem Land durch die Stimme von  indigenen Menschen online stellt.

            LGU bringt IDS einen Schritt weiter, indem es auf die Institution Universität reagiert und die indigene Handlungsfähigkeit zurückfordert, die eine Form des Widerstands und der Verweigerung ist. Die Abwesenheit indigener Völker innerhalb des Lehrkörpers, des Personals, der Studierendenschaft und des universitären Curriculums bleibt jedoch bestehen. LGU bringt indigene Stimmen wieder hörbar in den Diskurs, indem es die Verletzungen des Siedlerkolonialismus innerhalb der universitären Institutionen historisch bis in die Gegenwart hinein aufdeckt. Wie Eve Tuck und K. Wayne Yang uns gelehrt haben, eine Form des Widerstandes besteht darin, zu untersuchen. LGU schafft einen Raum für IDS durch seine investigativen Untersuchungen. Indem LGU die Gewalt der Land-Grant-Universitäten und die Ausbreitung des Siedlerkolonialismus aufdeckt, setzt es sich gegen das Fortbestehen des Siedlerkolonialismus zur Wehr.

Darüber hinaus fordern indigene Daten die Universitäten heraus, die Grundlagen ihres Erfolges neu zu bewerten, indem sie fast jeden erworbenen und verkauften Hektar, jede Landbeschlagnahme oder jeden Vertrag, der mit den indigenen Verwalter*innen des Landes geschlossen wurde, und jeden Dollar, der mit den Gewinnen aus der Enteignung ausgestattet wurde, identifizieren. Indem die LGU die Universitäten mit diesen Daten konfrontiert, stellt sie nicht nur die indigene Präsenz her, sondern trägt auch zur wachsenden Bewegung des IDS bei. Das Projekt zeigt nicht nur Erfolge, indem es wichtige Daten über Land-Grant-Universitäten und die Enteignung von indigenem Land weitergibt, es fördert auch die indigene Handlungsfähigkeit, während es gleichzeitig zur Entwicklung von IDS beiträgt und sich dem Siedlerkolonialismus widersetzt.

Literatur

Lee, Robert, Tristan Ahtone, Margaret Pearce, Kalen Goodluck, Geoff McGhee, Cody Leff, Katherine Lanpher, and Taryn Salinas. “Land-Grab Universities, A High Country News Investigation.” landgrabu.org, 2020. https://www.landgrabu.org/.

Rainie, S.C., Kukutai, T., Walter, M., Figueroa-Rodriguez, O.L., Walker, J., & Axelsson, P. Issues in open data: Indigenous data sovereignty. In T. Davies, S. Walker, M. Rubinstein, & F. Perini (Eds.), The state of an open data: Histories and horizons. 2019, 300 - 319. Cape Town and Ottawa: African Minds and International Development Research Centre. http://stateofopendata.od4d.net.

Roxanne, Tiara. “Data colonialism: Decolonial Gestures of Storytelling.”donaufestival reader, 2020, 153-157.

Simpson, Audra. Mohawk Interruptus: Political Life Across the Borders of Settler States. Duke University Press. 2014.

Tuck, Eve and K. Wayne Yang. “Decolonization is not a metaphor.” Decolonization: Indigeneity, Education & Society, vol. 1, no. 1, 2012, 1–40.

Tuck, Eve, and K. Wayne Yang. (2014): “R-Words: Refusing Research.” Humanizing Research: Decolonizing Qualitative Inquiry with Youth and Communities, 223–248.

https://www.nps.gov/history/local-law/fhpl_indianrelfreact.pdf

Endnoten

[2] Nelson, C. (2020, Oct 8). Covid ravages Navajo Nation as Trump makes election play for area. The Guardian. Verfügbar unter: https://www.theguardian.com/us-news/2020/oct/08/navajo-nation-coronavirus-pandemic (Letzter Zugriff: 08.10.2020).

[3] https://www.aptnnews.ca/national-news/cnn-puts-itself-in-the-news-with-something-else-label/ (Letzter Zugriff: 12.11.2020).

[4] Robert Lee, et al., and Grab Universities, landgrabu.org (Letzter Zugriff: 01.08.2020).

[5] (qtd in) Simpson, Audra. Mohawk Interruptus: Political Life Across the Borders of Settler States. Duke University Press, 2014.

[6] Tuck, Eve and K. Wayne Yang. (2012) “Decolonization is not a metaphor.” Decolonization: Indigeneity, Education & Society, Vol. 1, no.1, p. 5.

[7] Ebd., 4.

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] Rainie, S. C. et al.: Issues in open data. Indigenous data sovereignty. The state of an open data: Histories and horizons, 301.

[11] End., 302.

[12] Ebd., 304.

[13] Tuck, Eve/ Yang, K. Wayne (2014): “R-Words: Refusing Research.” Humanizing Research: Decolonizing Qualitative Inquiry with Youth and Communities, 223–248.

[14] Robert Lee, et al., and Grab Universities, https://www.landgrabu.org/ (Letzter Zugriff: 01.08.2020).